Litaturwissenschaftlerin: Der medizinisch interessierte Autor verarbeitete aktuelle neurologische Theorien

Das Bild des blutsaugenden Vampirs – heute ein gängiges, stereotypes Element des Horrorgenres – wurde vor allem von dem irischen Schriftsteller Bram Stoker (1847-1912) entwickelt. Er formte eine literarische Gestalt, die zwar von Elementen der rumanischen Mythen um Wiederkehrer und der geschichtliche Figur des walachischen Herrschers Vlad III. Draculea motiviert war, aber mit diesen historischen Quellen nur noch oberflächliche Gemeinsamkeiten aufweist. Nun hat die kalifornische Literaturwissenschaftlerin Anne Stiles untersucht, welche zeitgenösisschen neurologisch-medizinischen Vorstellungen Stoker in seinem 1897 erschienen Werk verarbeitet hat – ein Aspekt, der bisher von Literaturwissenschaftlern und von Wissenschaftshistorikern kaum beachtet worden ist.

Stoker war ein umfassend gebildeter und interessierter Mensch, der am Trinitiy College, der renommierten Universität in Dublin, Geschichte, Literatur, Mathematik und Physik studierte und den akademischen Titel des Magisters (M.A.) in Mathematik erwarb. Er stand mit den führenden Londoner Intellektuellen in Kontakt, und sein vielfältiges Interesse umfasste auch die zeitgenössische Medizin und Physiologie, über die er umfangreiche Werke in seiner Privatbibliothek hatte.

Anne Stiles zeigt nun in einem Artikel in der Fachzeitschrift Journal Of The History Of The Neurosciences, dass sich in Stokers Arbeitsmaterialen zu dem Roman unter anderem maschinenschriftliche Notizen über Somnambulismus (Schlafwandeln), über Trancezustände und über Kopfverletzungen befinden. Und er habe sein umfangreiches Wissen um die zeitgenössische Neurologie erkennbar in sein Werk einfließen lassen: So gehe die Beschreibung der Automatismen Draculas und seiner vampirischen Gehilfen und ihr somnambules Verhalten auf Theorien des schottischen Physiologen Ferrier (1843-1928) und anderer Physiologen zurück, die Reflexe und andere Automatismen auf die Aktivität des Gehirnstammes zurückführten.

Diese Erkenntnisse warfen für zeitgenössischen Intellektuelle die Frage auf, ob das menschliche Verhalten durch Reflexreaktion zwischen Körper und Gehirn "determiniert" sei – was etablierte Vorstellungen eines freien Willens und einer unsterblichen Seele in Frage stellte.

Demach stellt der Roman nicht nur den Konflikt zwischen der Wissenschaftsgläubigkeit der Industrialisierung und der Macht traditioneller Mystik und Magie dar. Anne Stiles stellt vielmehr die These auf, dass Stoker mit der Beschreibung seiner Vampire auch der Angst des ausgehenden 19. Jhds. Ausdruck verlieh, dass sich die Menschen selbst nur als seelenlose physiologische Maschinen herausstellen könnten.

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