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Edgar Wunder

Zeitschrift für Anomalistik, Band 1 (2001), S. 3-6.

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"Anomalistik" ist ein von dem Anthropologen Roger W. Wescott (1973) eingeführter Sammelbegriff. Er soll einen interdisziplinären Zugang bei der Erforschung von wissenschaftlichen Anomalien und ihrer Rezeption im sozialen System der Wissenschaft und der Gesellschaft insgesamt bezeichnen. Wissenschaftliche Anomalien sind Beobachtungsergebnisse, die bisherigen theoretischen Vorstellungen und Annahmen über die Welt zu widersprechen scheinen, für die es also bisher noch keine Erklärungen im Rahmen konventioneller Theorien zu geben scheint, die aber unter Bedingungen erzielt wurden, die in wissenschaftlichen Diskursen für gemeinhin als valide angesehen werden. Im Wissenschaftsmodell von Thomas S. Kuhn spielen sie eine zentrale Rolle für den Theorienwandel in der Wissenschaft und damit auch zum Verständnis von Wissenschaft insgesamt.

Ein fließender Übergang besteht zu so genannten "außergewöhnlichen menschlichen Erfahrungen", die als Anomalien für die Alltagswelt eines Individuums verstanden werden können (und deshalb für das Subjekt oft stark verunsichernd wirken), jedoch im wissenschaftlichen Kontext nicht als Anomalien wahrgenommen werden, da sie außerhalb kontrollierter Bedingungen erfahren und deshalb nicht als valide bzw. relevant eingestuft werden.

Ähnlich wie das Behaupten und Bekräftigen von wissenschaftlichen Anomalien im sozialen System der Wissenschaft, so können außergewöhnliche menschliche Erfahrungen schnell zu Stigmatisierungen in der sozialen Umwelt und der Gesellschaft insgesamt führen. So kann es schließlich zu sozialen Vergemeinschaftungen kommen, die sich um spezifische Muster hinreichend weit verbreiteter Erfahrungen oder Anomalien bilden, zuweilen aber auch eine erhebliche Eigendynamik - bis hin zu religioiden Systemen - gewinnen können.

Solche sozial gestützten, devianten Systeme des Wissens, deren Legitimität und Geltung in einer Gesellschaft kontrovers diskutiert werden, kann man als "Parawissenschaften" definieren, wenn der um sie geführte öffentliche Meinungskampf - beiderseitig oder einseitig - unter Bezugnahme auf die Semantik der "Wissenschaft" ausgefochten wird; der beliebtesten Rhetorik der Moderne im Kampf um Wissensbehauptungen.

In dieser gesellschaftlichen Situation ist die Anomalistik - als ein zumindest vom Methodeninventar her ganz und gar "normalwissenschaftliches" Unternehmen - mit mehreren Schwierigkeiten konfrontiert: Erstens zwingen sie die in der gewohnten disziplinären Matrix häufig nicht eindeutig verortbaren Phänomene sowie die unterschiedlichen, sich aber gegenseitig befruchtenden Fragen, die man an Anomalien stellen kann, zur Interdisziplinarität. Sie muss deshalb eigene interdisziplinäre Netzwerke, Foren und auch Publikationsorgane aufbauen, wie dies zum Beispiel mit der Society for Scientific Exploration (SSE) oder dem Journal of Scientific Exploration (JSE) als der derzeit wohl bedeutendsten Zeitschrift in diesem Bereich geschehen ist. Zweitens ist der öffentliche Diskurs um solche von der offiziellen Wissenschaft teils ignorierten oder als ignoriert angesehenen Anomalien und außergewöhnlichen menschlichen Erfahrungen durch das Auftreten zahlreicher "gutwilliger Dilettanten" und "Sonntagsforscher", ja gar Heilspropheten und Missionare pro und contra geprägt. In einem solchen gesellschaftlichen Umfeld gilt es, ein besonderes Gewicht auf die Einhaltung wissenschaftlicher Standards zu legen und den fachwissenschaftlichen Diskurs zu suchen bzw. zu entwickeln, anstatt der Versuchung zu erliegen, sich in letztlich unfruchtbaren populären Diskursen zu verstricken. Drittens führt der um Parawissenschaften geführte - und oft weltanschaulich geprägte - Kampf zu zahlreichen Polarisierungen und Lagerbildungen, die in ihrem emotional unterfütterten Gehalt für die Anomalistik nur schädlich sein können. Dadurch werden Akteure stereotyp entzweit statt zu konstruktiven Dialogen zusammengeführt. Der Gegenstandsbereich der Anomalistik impliziert fast automatisch die Existenz sehr unterschiedlicher Standpunkte. Entscheidend wäre nun, dass die verschiedenen Positionen unmittelbar einen kontroversen, partnerschaftlichen Dialog miteinander suchen und sich nicht in weitgehend isolierten sozialen Milieus vergemeinschaften, in denen mit tiefgreifender Kritik an den Grundprämissen von innen heraus nicht mehr zu rechnen ist und fatale Selbstbestätigungstendenzen vorherrschen. Wissenschaft lebt zentral von Kritik und Gegenkritik, ohne deren institutionelle Sicherung degeneriert sie, wie zahlreiche Beispiele in der Wissenschaftsgeschichte zeigen, aber auch die Esoterik- sowie die sog. "Skeptiker"-Bewegung demonstrieren, die trotz teilweise bester Absichten strukturell ähnliche Symptome und Pathologien hervorbringen und hervorbringen müssen, da sie als geschlossene Gemeinschaften von Anhängern oder Gegnern diverser Thesen oder Kosmologien diesem Problem unterliegen. Sie sind damit als wissenschaftlich sein wollende Unternehmungen fast zwangsläufig zum Scheitern verurteilt.

An dieser Stelle setzt die Zeitschrift für Anomalistik an. Sie will ein offenes wissenschaftliches Forum sein für Vertreter unterschiedlichster Positionen und Ansätze. Vorausgesetzt werden dabei nur der Wunsch nach einem ernsthaften Dialog mit jeweils Andersdenkenden, der Wille, Vertretern von konkurrierenden Positionen und Ansätzen mit Respekt zu begegnen, sowie die Bereitschaft, die in der Wissenschaft üblichen Standards zu achten. Der Zeitschrift für Anomalistik geht es nicht um Belehrung oder Aufklärung der Öffentlichkeit, nicht um Anstrengungen gegen irgend einen "Irrationalismus" oder Bemühungen zur unterhaltsamen Popularisierung irgendwelcher Thesen. All dies wäre bestenfalls PR für Wissenschaft, aber nicht ein wissenschaftlicher Diskurs selbst, um den allein hier gerungen werden soll.

Zu jedem im Rahmen eines Peer-Review-Verfahrens zur Publikation angenommenen Aufsatz wird die Redaktion noch vor der Veröffentlichung Diskussionsbeiträge anfordern, vorzugsweise von sachkundigen Andersdenkenden im jeweiligen Feld. Diese Kommentare werden zusammen mit dem Ausgangsartikel in einem Heft veröffentlicht, wobei der Autor selbstverständlich die Möglichkeit zu einer Replik hat. Aber dies ist nur die erste Runde des Dialogs, der in Folgeheften - von alten oder neuen Kommentatoren - gerne fortgesetzt werden kann. Es besteht keine grundsätzliche Schlusswortregelung, solange der Diskurs sachlich und dem ursprünglichen Thema verpflichtet bleibt. Solche kooperativen Diskussionen sollten keine Gewinner oder Verlierer kennen, denn in einem wirklichen Dialog profitieren alle, auch wenn sich in einer Streitfrage letztlich keine Einigung erzielen lassen sollte. Alle Leser, die auf diese Weise einen eigenen Beitrag zur Diskussion stellen oder sich durch Kommentare einbringen wollen, sind herzlich dazu eingeladen.

Die vorliegende erste Ausgabe der Zeitschrift kreist als Themenschwerpunkt um mehr oder minder sozialwissenschaftlich orientierte Beiträge zur Frage sog. UFO-Entführungsberichte. (Die Aufsätze gehen vorwiegend auf eine Arbeitstagung im Oktober 2000 in Cröffelbach zurück, für deren Organisation ich Rudolf Henke ganz herzlich danken möchte.) Zukünftige Ausgaben werden das Themenspektrum der Anomalistik in seiner ganzen Breite behandeln und dabei auch die Pluralität der Ansätze durch z.B. eher naturwissenschaftlich orientierte Beiträge sicherstellen.

Die Redaktion kann und will nicht Schiedsrichter in inhaltlichen Fragen sein, sondern überlässt diesbezügliche Urteile ganz den Lesern. Wohl aber werden wir - wie übrigens bereits geschehen - Aufsätze nicht zur Publikation bringen, die grundlegenden Anforderungen an einen wissenschaftlichen Diskurs nicht genügen, genauso wie Kommentare, die nicht konkret und unmittelbar auf die zur Diskussion stehenden Beiträge eingehen oder es an Sachlichkeit mangeln lassen. Indem die Zeitschrift für Anomalistik weder Heger noch Jäger parawissenschaftlicher Konzepte sein will, nimmt sie eine durchaus prekäre Stellung ein. Es ist relativ leicht, Unterstützer für oder gegen bestimmte Positionen zu mobilisieren, aber sehr viel schwieriger, die um wechselseitige Toleranz und vorsichtige Urteilsaussetzung Bemühten zu gewinnen. Die meisten Menschen suchen nach Antworten und Sicherheit. Der Zeitschrift für Anomalistik geht es dagegen gerade darum, solche vermeintlich sicheren Antworten von verschiedenen Seiten her in Frage zu stellen und erst einmal nach den richtigen Fragen Ausschau zu halten.

Historische Vorläufer eines solchen an kontroversen Diskussionen auf wissenschaftlichem Niveau orientierten Ansatzes gibt es im Bereich der Anomalistik nur sehr wenige. Unser unmittelbares Vorbild ist der amerikanische Zetetic Scholar, der von 1978 bis 1987 von dem Soziologen Marcello Truzzi herausgegeben wurde. Im deutschen Sprachraum müssen wir über 70 Jahre zurückgehen, um auf ein vergleichbares Projekt mit einem aus heutiger Sicht befremdlichen Titel zu stoßen: die Zeitschrift für kritischen Okkultismus, die 1926 vom Landgerichtsdirektor A. Hellwig gegründet wurde und nur 3 Jahre lang erschien, unterstützt von prominenten Kritikern und Anhängern des "Okkulten" (so der damals von beiden Seiten in Anspruch genommene dominante Kampfbegriff), wie z.B. Max Dessoir, Eric Dingwall, Graf v. Klinckowstroem, dem Freiherrn von Schrenck-Notzing und anderen. Im Bewusstsein des zwischenzeitlich erheblichen Bedeutungswandels des Begriffs "Okkultismus" ist es auch für die Perspektive der Zeitschrift für Anomalistik interessant, sich ein im Jahr 1926 verfasstes Editorial des damaligen Schriftleiters Richard Baerwald zu vergegenwärtigen:

"Manche fanden es selbstverständlich, dass die neue Zeitschrift im Sinne des Okkultismus wirke, anderen schien es gerade darauf anzukommen, dass nun endlich einmal der okkultistischen Täuschung Einhalt geboten würde. Die Forderung, kritisch zu sein, wurde ausgelegt: 'Kritisch ist, wer so denkt wie ich!'. Demgegenüber galt es zu betonen, dass der wilde Kampf entgegengesetzter Meinungen uns bisher nur eine Gewissheit gegeben hat: Die, dass noch niemand den echten Ring besitzt, und dass wir nur hoffen können, durch geduldiges und aufmerksames Anhören der Vertreter aller Standpunkte schließlich ein endgültiges Ergebnis zu gewinnen." Und weiter: "Es war von je der Traum vernünftiger Okkultisten und Antiokkultisten, dass der leidenschaftliche persönliche Streit verstummen und Vertreter aller Richtungen sich zu sachlicher, hassfreier Diskussion vereinigen könnten. Bisher ist jeder Versuch, der diesen Wunsch zu verwirklichen strebte, an der Fülle persönlicher Differenzen gescheitert. Unser Unternehmen ist der gleichen Gefahr ausgesetzt.. ... Aber der bloße Hinweis darauf, dass ein parteiloses Organ über okkultistische Fragen gefährliche Explosivstoffe enthält, wird wohl schon verhindern, dass man mit brennenden Streichhölzern in ihm herumwirft."