Neuartige Datierungsmethode wirft Zweifel auf

Die Probe des Turiner Grabtuches, die durch Radiokarbondatierung (C14-Methode) auf zwischen 1260 und 1390 datiert wurden, sei an einer im Mittelalter ausgebesserten Stelle entnommen worden, und das Tuch sei nach "vorläufigen Schätzungen" tatsächlich zwischen 1300 und 3000 Jahre alt. Zu diesem Schluss kommt der Chemiker Raymond N. Rogers in einem Artikel in der chemischen Fachzeitschrift Thermochimica Acta mit Hilfe einer von ihm entwickelten Datierungsmethode, zu der bisher jedoch keine unabhängige Validierung vorliegt.

Rogers, der früher am Los Alamos National Laboratory arbeitete, hatte verschiedene Proben zur Verfügung. 2003 erhielt er Fäden aus der Probe, die 1988 zur Radiokarbondatierung verwendet wurde. Weiterhin lagen 14 Fäden vor, die 1973 von Gilbert Raes entnommen worden waren und aus einem Bereich neben der Radiokarbon-Probe stammten. Rogers selbst hatte 1978 im Rahmen des Shroud of Turin Research Projects (STURP) mit Klebebändern 32 Oberflächenproben entnommen, sowohl an unversehrt scheinenden Stellen als auch an den 1534 nach einem Feuer ausgebesserten Stellen (dem sog. Holland-Leinen).

Rogers Überlegungen zu einer Neudatierung beruhen auf dem chemischen Zerfall des Vanillins, das aus dem im Flachs enthaltenen Lignin entsteht. Vanillin zerfällt unter Temperatureinwirkung, sodass die Konzentration des Vanillins mit der Zeit abnimmt. Daher kann der Vanillingehalt einen Hinweis auf das Alter geben. Dieses Prinzip ist aus anderen Datierungsverfahren mit anderen langsam ablaufenden chemischen Umwandlungen gut bekannt, doch wurde bisher der Lignin-Vanillin-Zerfall nicht als Methode zur Datierung genutzt. Um die Methode zu testen, untersuchte Rogers einige Kontrollproben, die sich wie erwartet verhielten: Im mittelalterlichen Holland-Leinen war Vanillin noch nachweisbar, Proben aus biblischer Zeit (Leinen aus dem Befundzusammenhang der Schriftrollen vom Toten Meer) enthielten jedoch kein Vanillin.

Dass die Radiokarbondatierung nicht das tatsächliche Alter des Turiner Grabtuches wiedergibt, folgert Rogers aus der Tatsache, dass die Radiokarbon-Probe und die angrenzende Raes-Probe noch Vanillin enthielten, während in den übrigen Proben des Grabtuches kein Vanillin nachweisbar war. Demnach wäre das Radiokarbonalter zwar korrekt, aber die gemessene Probe nicht repräsentativ für den Rest des Tuches, wie der unterschiedliche Vanillin-Zerfall zeigt. Nach weiteren Analysen der Fasern und der Farbbeschichtung meint Rogers, "die Farbe und die Verteilung der Farbschicht impliziert, dass zu einem unbekannten Zeitpunkt Reparaturen ausgeführt wurden mit Leinen, das gefärbt wurde, um zum Farbton des älteren Materials zu passen." Diese vermutete Reparatur dürfte irgendwann vor der bekannten Reparatur von 1534 durchgeführt worden sein; sollte dies zwischen 1260 und 1390 geschehen sein, so stünde dies mit den Ergebnissen der C14-Datierung im Einklang.

Wie alt ist nun das Grabtuch von Turin? Dass im übrigen Teil des Tuches kein Vanillin nachweisbar ist, sieht Rogers als Hinweis auf ein hohes Alter. Analog zu vielen bekannten chemischen Datierungsmethoden lässt sich ein thermodynamisches Zerfallsmodell aufstellen, mit dem bei bekannter Umgebungstemperatur die Zerfallsrate bestimmt wird und damit umgekehrt bei bekanntem Vanillingehalt das Alter. Bei einer konstanten Temperatur von 25 Grad C wäre nach 1300 Jahren der Vanillingehalt unter die Nachweisgrenze gefallen, bei 20 Grad hingegen erst nach über 3000 Jahren. Das Problem dieses Modells ist jedoch die Umgebungstemperatur, die kaum bekannt ist. Vor allem: Da sich kurze Zeiten mit hoher Temperatur viel stärker auf den Zerfall auswirken als lange Zeiten mit geringer Temperatur, kann das Ergebnis sehr stark verfälscht werden, wenn das Tuch (oder die Proben nach ihrer Entnahme) kurzzeitig höheren Temperaturen ausgesetzt wurden. Aufgrund dieser Unsicherheiten bezeichnet Rogers das Ergebnis im Abstract der Publikation als "vorläufige Schätzung" ("preliminary estimates").

Dass die mehrfach belegten Brände das Ergebnis verfälschten, hält Rogers nicht für wahrscheinlich, da dann verschiedene Bereiche des Tuches unterschiedlich betroffen sein müssten: Das gefaltete Grabtuch ist nur am Rande verkohlt, im Inneren unversehrt. Andererseits ergeben jedoch die in der Publikation angegebenen Daten des thermodynamischen Modells, dass das Vanillin bei 150 Grad nach nur wenigen Stunden verschwunden wäre – während des Brandes durchaus erreichbar, ohne dass dabei Brandspuren erkennbar wären. Dabei bliebe jedoch die Frage, warum im Bereich um die Radiokarbon-Probe das Vanillin nicht vollständig zerfallen ist. Allerdings ist unklar, ob es zu Verfälschungen kommt, weil die Radiokarbon-Probe und die Rogers-Proben jeweils auf unterschiedliche Art entnommen, unterschiedlich behandelt und über zwei Jahrzehnte unterschiedlich gelagert wurden.

Aus der Erfahrung mit anderen Datierungsmethoden, die auf ähnlichen Prinzipien beruhen, gibt es generelle Gründe zur Vorsicht. Chemische Datierungsmethoden müssen vor ihrer Anwendung durch umfangreiche Tests validiert werden, indem man Proben mit bekanntem Alter untersucht. Dabei muss man z.B. nachweisen, dass die Reaktionsrate tatsächlich genau bestimmbar ist und nicht etwa von der Zusammensetzung des Stoffes, dem Vorhandensein anderer Substanzen oder anderen Faktoren beeinflusst wird. Nur wenige chemische Reaktionen haben sich als zuverlässige Grundlage für Datierungen herausgestellt. Da bisher die Vanillin-Datierung nur am Turiner Grabtuch selbst sowie an einigen wenigen Vergleichsproben getestet wurde (wobei das Holland-Leinen zudem noch eine mit ihm verknüpfte Geschichte aufweist), ist die Aussagekraft dieser Methode derzeit noch kaum geklärt. Erst nach umfangreicherer Validierung dieser neuen Datierungsmethode lässt sich entscheiden, ob sie zuverlässige Daten ergibt oder ob der festgestellte Unterschied zwischen der Radiokarbon-Probe und den anderen Tuchproben durch ganz andere Einflüsse erklärbar ist.

Quellen

Zusätzliche Informationen